Dr. Bettina Wehner
Dr. Bettina Wehner
roter Punkt
Siegfried Lenz: Der Überläufer
Antikriegsroman aus den frühen fünfziger Jahren,
herausgegeben 2016 bei Hoffmann und Kampe


Siegfried Lenz, im März 1926 in Ostpreußen geboren, ist eine der führenden literarischen Stimmen Nachkriegsdeutschlands und der geeinten Bundesrepublik. Im Januar 2016 erschien posthum der Roman „Der Überläufer“, der bereits 1951-52 entstanden ist. Lenz setzt in diesem Antikriegsroman seine Figuren, allen voran seine Hauptfigur Proska, mit äußerster Vorbehaltlosigkeit dem menschenverachtenden Zerstörungswerk des Krieges in Osteuropa aus. In den Sümpfen Russlands und der Ukraine führt die Anarchie im letzten Kriegsjahr zum ungezügelten Morden.

Proska ist unter Führung eines verbitterten und zynischen Unteroffiziers einer kleinen Einheit zugeordnet, die eine Bahnlinie in west – östlicher Richtung verteidigen soll. Die Einheit verliert aber den Kontakt zur kämpfenden Truppe, welche ständig zurückgedrängt wird von sowjetischen Streitkräften. In dem großen waldigen und sumpfigen Gebiet zwischen den Linien tobt der Partisanenkrieg. Hier gibt es kaum Zusammenhalt unter den Kämpfenden, und jeder ist auf sich gestellt und muss bereit sein, jederzeit von der Waffe Gebrauch zu machen.

Blinder Zerstörungswut und existentieller Sinnlosigkeit ausgesetzt, stellen sich Proska und ein Kamerad - Einzelgänger wie auch Proska - die drängende Frage, ob es nicht Sinn machen könnte, den mörderischen Krieg durch Überlaufen aktiv zu verkürzen. Doch ihr Handeln nach dem Gewissen lässt sie auch potentiell zu Schuldigen werden. „Wenn nicht die täglichen Angriffe gewesen wären, Angriffe, die sie immer weiter nach Westen brachten, so hätte Proska nichts gehabt, woraus er neue Kraft und Zuversicht hätte beziehen können. Aber es ging ja vorwärts, und die Tatsache, daß es vorwärts ging, schien seinen Entschluß nachträglich auf sehr demonstrative Weise gutzuheißen, und diese Tatsache schien außerdem zu bestätigen, daß er auf der Seite der Gerechten war, denn die Gerechten – dachte Proska – haben immer den endlichen Erfolg. Er rechnete in seinem Schädel aus, wie lange sich die ´Klicke` noch halten könnte und wieviel Monate es schlimmstenfalls dauern werde, bis er wieder frei wäre. Proska hielt die Folgen seines Entschlusses aus. Aber er hatte sein automatisches Gewehr noch nie auf einen seiner ehemaligen Kameraden gerichtet.“ (Lenz: Der Überläufer, S. 270) Dennoch: Der Krieg lässt niemanden unschuldig davonkommen. Proska erschießt seinen Schwager und auch den Bruder seines Mädchens, ohne zu ahnen, was er tut.

Im ersten Kapitel des Romans leiht sich Proska Briefmarken vom alten Apotheker Adomeit, um einen fünfzehn Seiten langen Brief an seine Schwester Maria zu befördern, in dem er ihr schweren Herzens Auskunft gibt über den Tod ihres Mannes. Im letzten Kapitel bringt der Briefträger diesen Brief nach einer längeren Zeit zurück an Proska mit dem Vermerk: “Nicht zustellbar. Empfänger unbekannt verzogen.“

Der Roman legt ein starkes Zeugnis ab von der Sinnlosigkeit des Krieges und der Verstrickung der in ihn Involvierten in Schuld. Die Sinnlosigkeit des Krieges wird sehr eindringlich, ja in Form und Stil auch expressionistisch dargestellt. – Als Lenz den Roman verfasste Anfang der 50er Jahre, passte der Text politisch nicht mehr in die Zeit, die bereits vom Wiederaufbau geprägt war. Die Adenauer-Ära verfolgte eine konsequente Westbindung und der tiefe Einschnitt des Krieges mochte als unangemessen anarchisch erscheinen. Trotz der großen Verdienste der Nachkriegspolitiker sei angemerkt, dass eine tendenziell konservative Weltsicht mit mindestens teilweise merklicher Neigung zur Heldenverehrung die Folge der konsequenten Westorientierung war.

Der Verlag Hoffmann und Campe nimmt zu der Frage, warum der Roman „Der Überläufer“ erst so spät veröffentlicht wurde, unmissverständlich Stellung (S. 341-358). – Siegfried Lenz war mit seinem Roman „Es waren Habichte in der Luft“ sehr gut angekommen beim Publikum. Sein zweiter Roman jedoch, 2016 posthum ebenfalls bei Hoffmann und Campe verlegt, traf beim Verlag nicht auf Begeisterung. Lenz arbeitete sein Manuskript nach einem Gespräch mit Dr. Görner, dem von Hoffmann und Campe hinzugezogenen Lektor, um. Dabei stellte er die Überläufer-Problematik stärker heraus als in der ersten Fassung. Dies war aber gerade nicht im Sinne Dr. Görners und des Verlags, so darf man schließen. Dr. Görner schrieb jedenfalls u.a. an Siegfried Lenz: „Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein. … Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht.“ (zitiert bei Lenz: Der Überläufer, S. 347; Brief vom Januar 1952)

Lenz war 1952 mit seinem Überläufer- Roman also nicht mehr zeitgemäß. Er verzichtete auf die Herausgabe des Romans, und da er als Schriftsteller von großer Kreativität war, entspannte sich auch bald das Verhältnis zwischen ihm und dem Verlag Hoffmann und Campe. Nachdem Lenz sein persönliches Archiv 2014 dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben hatte, wurde der Roman beim Sichten der Papiere wiederentdeckt (s. Lenz: Der Überläufer, S. 356).

Bis heute fällt es staatstragenden Kreisen schwer, Überläufer als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Inzwischen gibt es für sie ein Denkmal am Stephansplatz in Hamburg. Den 999er Strafsoldaten, die in Hamburg vom Hannoverschen Bahnhof aus deportiert wurden und die auch häufig als Überläufer gebrandmarkt wurden, blieb bis heute die Rehabilitierung versagt. Diese wird immer schwieriger, da alle Opfer tot sind und bestenfalls noch Nachkommen leben. Es ist bereits kaum noch möglich, zu ausführlichen Informationen über das Leben der einzelnen Strafsoldaten zu kommen. Die Widerstandskämpfer unter den bürgerlich-adligen Offizieren und Honoratioren aber genießen seit Anbeginn der Bundesrepublik größte Wertschätzung. Ich meine, ihre Erfolglosigkeit als Attentäter ist nicht ganz ohne Weiteres zu verstehen. Ihre Bindung an ihren Eid hatte einen zu hohen Stellenwert, obwohl der Oberste Kriegsherr, auf den persönlich der Eid geschworen wurde, menschenverachtender Verbrecher war.

Siegfried Lenz als Sprecher der kleinen Leute und der Einzelgänger, die es schwer haben im Leben und die nicht populär sind: Diese Stimme kennen wir aus vielen seiner Werke, und diese Stimme wird auch deutlich in Lenz` bemerkenswertem Überläufer-Roman.
Dr. Bettina Wehner-Wöbbeking am 15. März 2016

Michel Houellebecq: "Unterwerfung"

Michel Houellebecq hat mit seinem neuen Roman „Unterwerfung“ eine hochaktuelle literarische Gesellschaftskritik vorgelegt, die eine besonders schreckliche Version einer Integration der islamischen Gesellschaft in die abendländisch christlich-jüdische Tradition thematisiert. Das Werk kam bei Flammarion in Paris ausgerechnet am Tag des terroristischen Überfalls am 7. Januar 2015 auf die Satirezeitschrift „Charlie Hepdo“ in Paris heraus und ist seitdem in vielen Ländern erschienen. Die deutsche Fassung liegt mir in der 3. Auflage vor (Köln: DuMont Buchverlag 2015). In dichterischer Freiheit setzt sich der Autor mit den Ängsten der westlichen Zivilisation vor einer möglichen Islamisierung auseinander. Zugleich resultiert das im Roman beschriebene Ergebnis einer islamisierten Gesellschaft aus der Gier vieler Bürger nach Ansehen und Reichtum, welche an die Stelle der aus Aufklärung und französischer Revolution übermittelten Werte Freiheit, Demokratie, Toleranz, Brüderlichkeit getreten sind. Die meisten Bürger entwickeln eine „Faszination für Geld“ (S.8). „Noch willenloser sind sie ihrem Drang ausgeliefert, sich zu beweisen, sich einen beneidenswerten Platz in einer Gesellschaft des – wie sie denken und hoffen – Wettbewerbs zu erkämpfen, elektrisiert von der Anbetung austauschbarer Ikonen: Sportler, Modedesigner, Internetkreative, Schauspieler, Models.“ (S.8)

Der Roman spielt in einer Zukunft, die direkt auf der gegenwärtigen Situation Frankreichs aufbaut. Durch den Zugriff des Autors auf eine nahe Zukunft wird die Gegenwart dichterisch als Horrorszenario ausgeleuchtet. Hollande, Vorsitzender der Sozialistischen Partei Frankreichs, und Marine le Pen, Vorsitzende des Front National, sind noch im Amt als zwei wichtige Kontrahenten, daneben gewinnt im Roman die schnell anwachsende „Bruderschaft der Muslime“ an Bedeutung, während die Konservativen verlieren. Die Gesellschaft verliert zunehmend ihren inneren Zusammenhalt.

Im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2022 kommt es durch die Radikalisierung politischer Kräfte zu gewaltsamen Ausschreitungen. Gewinner dieser Entwicklung ist am Ende die „Bruderschaft der Muslime“, die aus einer kleinen Partei zur drittgrößten politischen Kraft anwächst; dies geschieht zum Gutteil mit Hilfe von Krawallen im Wahlkampf. Für die ‚Bruderschaft’ ist die Vernetzung in der Gesellschaft ein wichtiges politisches Mittel zum Erfolg. „Nach dem Vorbild der muslimischen Parteien, wie sie in der arabischen Welt existierten (sie waren übrigens dem früheren Vorbild der Kommunistischen Partei Frankreichs nicht unähnlich), wurde die politische Handlung in ein dichtes Netz von Jugendverbänden, Kultureinrichtungen und karikativen Institutionen verlagert.“ (S. 44)

Um die prozentual größte Partei, den Front National, am Regieren zu hindern, tun sich die Sozialisten mit der „Bruderschaft der Muslime“ zusammen, und auch die Konservativen schließen sich an; so nimmt die Islamisierung nach den Präsidentschaftswahlen ihren Lauf. Präsident wird der geschickte und beliebte, daher mehrheitsfähige Moslem Ben Abbes. Die Partei der Muslime ist aktiv im Bereich von Bildung und Kultur; die Schulen und auch die Universitäten werden muslimisch geprägt. Die gesellschaftlichen Veränderungen durchdringen alle Lebensbereiche. Äußerlich wird das deutlich in der Mode. „Kleider und Röcke waren verschwunden. Gleichzeitig hatte sich ein neues Kleidungsstück verbreitet, eine Art lange Baumwollbluse, die den halben Oberschenkel bedeckte und jedes Interesse an eng anliegenden Hosen unterband, die einige Frauen möglicherweise tragen mochten; Shorts waren natürlich auch keine mehr zu sehen.“ (S. 156) Das Frauenbild des Islam mit Verschleierung und häuslichen Tugenden im Dienste des Mannes als patriarchalisches Oberhaupt der Familie tritt an die Stelle westlicher Freiheiten. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau wird rückgängig gemacht und Eheschließungen werden reglementiert im islamischen Sinne. Rediger, der im Zuge der Umschichtungen von Staat und Gesellschaft vom Hochschullehrer zum Staatssekretär für das Universitätswesen reüssiert (S.243), bringt es auf den Punkt: “Aber für mich besteht eine Verbindung zwischen der unbedingten Unterwerfung der Frau unter den Mann, wie sie in Geschichte der O beschrieben wird, und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie der Islam anstrebt.“ (S. 234)

Die westlichen Intellektuellen, im Mittelpunkt des Romans der Ich-Erzähler Francois, nehmen die Veränderungen von Anfang an passiv hin, sind sie doch nicht kämpferisch genug, um sich gegen das fremde Diktat zu wehren. Der fiktive Ich-Erzähler ist ein Verehrer und profunder Kenner des dekadenten Dichters Huysmans, dessen passive Lebenshaltung ihm als Vorbild dient. Die Universitätslaufbahn des Erzählers, die auf literarischen Forschungen zu Huysmans aufbaute, findet zugleich mit den politischen Veränderungen vorläufig ihr Ende. Seine wirtschaftliche Privilegierung bleibt aber erhalten, ja, er bekommt als Pensionär genau so viel, wie er nach Abschluss seiner Karriere mit 65 Jahren im Ruhestand bekommen hätte.

Damit lässt Houellebecq es aber nicht bewenden. Francois wird als kompetenter Wissenschaftler von Rediger umworben und willigt nach einer Zeit des Zögerns in seine Bekehrung zum Islam ein, um danach seine Universitätskarriere fortsetzen zu können (S.270). Auf den letzten Seiten skizziert Houellebecq in operettenhafter Manier, wie der alte und neue Repräsentant der privilegierten Oberschicht auch den Luxus einer hübschen, gefügigen und sehr jungen Frau genießen könnte. Damit wird spielerisch auch die Generationen andauernde Emanzipation der Frau rückgängig gemacht. Der Leser vermag diesem unernsten Schluss kaum zu folgen. „Jede dieser jungen Frauen, mochte sie noch so hübsch sein, wäre glücklich und stolz, von mir auserwählt zu werden, und sich geehrt fühlen, mein Bett mit mir zu teilen.“ (S.270) - Dass das letzte Kapitel rein hypothetisch gemeint ist, signalisiert formal der Konjunktiv 2, in dem es verfasst wurde. Es sind wohl Männerträume, oder handelt es sich doch eher um ein Horrorszenario oder um Beides? Es wäre jedenfalls eine komplette Unterwerfung der westlichen Gesellschaft unter den Islam. Der Titel des Romans schlägt diese Interpretation vor.

Ich weiß nicht, ob alle Leser Houellebecqs Humor und Ironiebedürfnis folgen können. Es ist aber sein Recht, sich die künstlerische Freiheit eines kitschigen und unernsten Schlusses zu nehmen. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Oder doch? Immerhin stellt sich für den Leser die Frage, welche Werte er selber vertritt und für welche Werte aktiv - nicht gewaltsam - einzutreten es sich lohnt. Integration des Islams in die westliche Kultur will jedenfalls erarbeitet werden; das gilt für beide Kulturen. Es ist klar, dass sich im Laufe der Auseinandersetzung auch das europäische Selbstverständnis ändern wird. Das darf aber nicht dazu führen, dass schwer errungene Grundüberzeugungen und Werte wie beispielsweise die Gleichberechtigung, die offene Gesellschaft und die Toleranz wieder rückgängig gemacht werden.

Hamburg, 13. Juli 2015



Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein“

Im Herbst 1946 schrieb Hans Fallada den fast 700 Seiten starken Roman "Jeder stirbt für sich allein" (s. ungekürzte Neuauflage im Aufbau Verlag, Berlin 2011).

Johannes R. Becher hatte Fallada die Prozessakten des Ehepaars Hampel zukommen lassen. Das Ehepaar war hingerichtet worden, weil es mit Karten und Briefen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufgerufen hatte. Dies liegt dem Roman zu Grunde. "Nur in großen Zügen - ein Roman hat eigene Gesetze und kann nicht in allem der Wirklichkeit folgen." ( Vorwort, S. 5)

Zum Roman. Das Ehepaar Quangel bekommt Nachricht vom Tod des einzigen Sohnes, der für Führer und Reich gestorben sei, verwindet diesen Verlust nicht und wird sich immer mehr des verbrecherischen Systems bewusst, das Menschen benutzt, verheizt, belügt und unfrei macht. Im Roman wie in der historischen Vorlage verteilt das Ehepaar Karten in Berliner Häusern mit Sätzen, die die Verbrechen des Krieges benennen und die Menschen aufrütteln sollen.

Aber die Menschen lassen sich nicht aufrütteln. Zu sehr hat die Angst vor dem Zwangsstaat ihre freie Entscheidungskraft gelähmt. Sie bringen die Karten zur Polizei und sich selbst um die Einsicht. So kommt der Polizeiapparat mit der ihm eigenen Schwerfälligkeit, Brutalität und Gründlichkeit zum Einsatz. Das System zeigt seine ganze zynische Menschenverachtung und bedient sich als Gehilfen der Menschen mit niederen Instinkten.

Kommissar Escherich, der Leiter des Falls "Klabautermann", scheut selbst vor Mord nicht zurück, um seine Karriere nicht zu gefährden und eine falsche Erfolgsbilanz aufweisen zu können. Als das Ehepaar Quangel schließlich verhaftet ist, wird Escherich sich im Angesicht Quangels der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst und schießt sich eine Kugel in den Kopf.

Hans Fallada 'Jeder stirbt für sich allein'

Freiheit und Verantwortung existieren nur fernab der politischen Entscheidungen. Gerichtsrat a.D. Fromm, ehemals durch seine Härte bekannt, hilft insgeheim Menschen; in seinem einsamen Leben ist Plutarch sein Gegenüber, zu dem er seine Zuflucht nimmt. Die Briefträgerin Eva Kluge - ein anderes Beispiel - findet im Landleben Ruhe und Einkehr. Werkmeister Quangel und seine Frau dagegen führen einen aussichtslosen Kampf aus Überzeugung, den er durch eiserne Selbstdisziplin mit Würde besteht. Sie wird, anders als ihr Mann, nicht hingerichtet, sondern im Gefängnis durch Bombeneinschlag unter Trümmern begraben und somit vor dem Schlimmsten bewahrt. Beide, im Leben immer zu zweit, sind in Einzelhaft und trotz intensiven Denkens an den andern auf sich selbst zurückgeworfen. So erklärt sich der Titel des Romans.

Der Titel der 2009 herausgekommenen englischen Ausgabe „Alone in Berlin" dagegen verweist auf die Vereinzelung und Ohnmacht der menschlichen Existenz unterm Zwangsstaat. Fallada, profunder Kenner des verbrecherischen Systems, sagt dazu: „Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.“ ( s. Vorwort S. 5)

Der spannende Roman, der viele Personen ins Geschehen verwickelt, ist plastisch und detailliert geschrieben. Der Autor vermag den Leser bis zur letzten Buchseite in den Bann zu ziehen. Trotz der Handlungsfülle geht es stets auch um eine zeitkritische und emotionale Abrechnung mit dem NS-Staat, der viel verspricht, viele ins Unglück stürzt und brutalen Menschen und Karrieristen eine - jedenfalls vorübergehende - Chance gibt.

Nach über 60 Jahren seit seiner Entstehung ist das faszinierende Zeitgemälde auf dem Umweg über die englische Ausgabe auch in Deutschland neu verlegt worden, zum ersten Mal (weitgehend) unbearbeitet und vollständig. Das Buch ist zum Bestseller reüssiert. Tatsächlich handelt es sich um nichts weniger als den ersten Widerstandsroman der Deutschen. Hauptpersonen sind wie gesagt mit den Quangels kleine Leute, die dem Erzähler Fallada besonders am Herzen liegen („Kleiner Mann - was nun?“).

Ich frage mich: Warum ist das Buch heute erst! so erfolgreich, enthält es doch - ja! meisterlich geschrieben - nur Dinge, die die Zeitgenossen des Systems sofort nach 1945 oder doch sehr bald hätten wissen müssen, aber lange Zeit geleugnet haben. - Wer den Roman noch nicht gelesen hat, sollte das bald nachholen.

Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“, Aufbau-Verlag Berlin,
ISBN 978-3-351-03349-1